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Vorhersagende Polizeiarbeit

  Bibliographische Angaben

Vorhersagende Polizeiarbeit

Autorinnen / Autoren:
Jens Tiemann
Zuletzt bearbeitet:
Jul 2016
Titel:
Vorhersagende Polizeiarbeit
Trendthema Nummer:
29
Herausgeber:
Kompetenzzentrum Öffentliche IT
Titel der Gesamtausgabe
ÖFIT-Trendschau: Öffentliche Informationstechnologie in der digitalisierten Gesellschaft
Erscheinungsort:
Berlin
Autorinnen und Autoren der Gesamtausgabe:
Mike Weber, Stephan Gauch, Faruch Amini, Tristan Kaiser, Jens Tiemann, Carsten Schmoll, Lutz Henckel, Gabriele Goldacker, Petra Hoepner, Nadja Menz, Maximilian Schmidt, Michael Stemmer, Florian Weigand, Christian Welzel, Jonas Pattberg, Nicole Opiela, Florian Friederici, Jan Gottschick, Jan Dennis Gumz, Fabian Manzke, Rudolf Roth, Dorian Grosch, Maximilian Gahntz, Hannes Wünsche, Simon Sebastian Hunt, Fabian Kirstein, Dunja Nofal, Basanta Thapa, Hüseyin Ugur Sagkal, Dorian Wachsmann, Michael Rothe, Oliver Schmidt, Jens Fromm
URL:
https://www.oeffentliche-it.de/-/vorhersagende-polizeiarbeit
ISBN:
978-3-9816025-2-4
Lizenz:
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (CC BY 3.0 DE) http://creativecommons.org/licenses/by/3.0 de/legalcode. Bedingung für die Nutzung des Werkes ist die Angabe der Namen der Autoren und Herausgeber.

Datensammlungen, Verbrechenskartierung und viel Erfahrung prägen seit langem die Polizeiarbeit. Eine softwaregestützte Datenauswertung zur Kriminalitätsprävention fügt sich in diese Reihe. Die Verknüpfung aktueller Daten kann ein kleinräumiges, detailliertes Lagebild ergeben, das Wahrscheinlichkeitsschätzungen für einzelne Formen von Kriminalität ermöglicht und damit zum effektiven Einsatz von Polizeikräften beiträgt. Wichtig ist dabei eine Fremd- und Selbstbeschränkung in der Datenauswertung, deren gesellschaftliche Akzeptanz stets neu diskutiert oder möglicherweise wiederhergestellt werden muss.

Verbrechensbekämpfung durch Daten

Unter Predictive Policing – in der einschlägigen Literatur mit »vorhersagende Polizeiarbeit« übersetzt – versteht man die Datenanalyse zur Wahrscheinlichkeitsschätzung zukünftiger Straftaten, um eine möglichst konkrete Unterstützung für die polizeiliche Einsatzplanung zu erhalten. Grundlage dieses Vorgehens ist die Verarbeitung großer Datenmengen aus detaillierten Lagebildern, aktuellen Ereignissen, allgemein zugänglichen Daten und zukünftig auch Sensordaten auf Basis von wissenschaftlichen Theorien zur Mustererkennung. Diese strukturierte Auswertung erweitert das Erfahrungswissen tagtäglicher Polizeiarbeit und macht vorliegende Daten für die nahe Zukunft nutzbar.

Typische Softwareanwendungen, wie sie derzeit in Deutschland mehrere Bundesländer testen, werden für die Vorhersage von Wohnungseinbrüchen eingesetzt. Interne Daten zu bisherigen Einbrüchen und mit ihnen verknüpfte, auch öffentlich zugängliche Daten zu Bebauung, Verkehrsinfrastruktur (siehe Sichere Fahrzeugkommunikation) und Wetter werden mit dem Ziel ausgewertet, kleinräumige Gebiete von etwa einem oder zwei Hektar nach ihrer Gefährdung zu klassifizieren. Andere Lösungen machen sich die Identifikation ungewöhnlicher Vorkommnisse zunutze. Ein Beispiel kann der sprunghafte Anstieg von Bargeldabhebung mit Karten kaum verbreiteter Kreditinstitute sein. Solche unwahrscheinlichen Häufungen können als Warnsignal interpretiert werden. Auf Basis derartiger Vorhersagen kann dann die Polizeipräsenz in einzelnen Gebieten erhöht respektive das Augenmerk der Polizeistreifen auf aktuelle Merkmale der Kriminalität gelenkt werden.

Identifikation von Mustern

Die Analysen basieren auf kriminologischen Theorien, die zur Erklärung bestimmter Muster herangezogen werden. Kern einer Vielzahl solcher kriminologischer Theorien – etwa Broken Window, Repeat Victimisation und Near Repeat – ist die Annahme, dass aus vorliegenden Straftaten auf eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für zukünftige Verbrechen geschlossen werden kann. So lässt sich beobachten, dass sich bestimmte Verbrechen in einer Gegend oder bei gleichen Opfern innerhalb einer kurzen Zeitspanne wiederholen. Je planvoller ein Täter vorgeht, desto genauer lassen sich solche Muster erkennen. Empirisch nachgewiesen sind wiederkehrende Muster für die Bereiche Einbruch, häusliche Gewalt, Bankraub und KFZ-Diebstahl.

In der Regel erfolgt die Verbindung der Daten – ähnlich wie bei den bewährten Methoden der Verbrechenskartierung und Geolokalisierung– über den geographischen Raum. Aktuell liegt hierin eine starke Restriktion begründet, da viele Daten nicht in ausreichender räumlicher Auflösung verfügbar sind. Perspektivisch kann jedoch die Einbindung von Sensoren die Analysemöglichkeiten deutlich erweitern (siehe Internet der Dinge). So sollen etwa die Sensoren einer smarten Stadt von morgen umfassende Daten zur Umwelt- und Lärmbelastung, zur Mobilität und zum Energieverbrauch in nahezu beliebigem räumlichen Detailgrad liefern, die teilweise für die vorhersagende Polizeiarbeit eingesetzt werden können. Die Auswertungen können dann wiederum in der Stadtplanung zur Identifikation respektive Vermeidung von Brennpunkten und für die Optimierung des weiteren Ausbaus der Sensornetzwerke eingesetzt werden.

Begriffliche Verortung

Netzwerkartige Verortung des Themenfeldes
Gesellschaftliche und wissenschaftliche Verortung

Systematische Erfassung aller relevanten Merkmale

Für die polizeiinterne Datenbereitstellung setzt die Einführung von softwarebasierten Verfahren voraus, dass alle relevanten Merkmale systematisch, gleichartig und zeitnah erfasst werden. Nur bei einer derart standardisierten Erfassung können Falldaten auch überregional verwendet werden, um eine ausreichende Anzahl für die Mustererkennung zu gewährleisten. Erst auf der Basis einer hinreichenden Fallzahl lassen sich kriminologische Aussagen untersuchen und konkretisieren.

Weitere Ansätze werden diskutiert und in Forschungsprojekten insbesondere im angelsächsischen Raum erprobt. Dabei geht es im Kern um die Verarbeitung von personenbezogenen Informationen, um auf das zukünftige Verhalten Einzelner zu schließen. So lassen sich beispielsweise durch Gesichtserkennung gewonnene Informationen von Kameras im öffentlichen Raum (etwa auf Plätzen und an Flughäfen) oder die öffentliche Kommunikation einzelner Personen (etwa in sozialen Netzwerken) automatisiert auswerten, um so Hinweise auf sich anbahnende Straftaten zu finden. Ein Vorgehen, das an ältere Verfahren der Rasterfahndung erinnert. Die erweiterten Ansätze verweisen auf ein Dilemma der softwaregestützten, voraussagenden Polizeiarbeit.

Sicherheit oder Generalverdacht?

Die Verknüpfung von Daten ist mit erheblichen datenschutzrechtlichen Implikationen verbunden, aus denen sich höchste Anforderungen an die Datensicherheit und Anonymisierung ergeben (siehe Digitale Unversehrtheit). Dadurch werden die Wahrscheinlichkeitsschätzungen zu einer undurchsichtigen Black Box, was der gesellschaftlichen Akzeptanz abträglich sein dürfte. Eine Herausforderung, die sich bei der Verwendung von proprietärer Software mit unbekannten Algorithmen noch verschärft (siehe Denkende Maschinen).

Ein Spannungsfeld zeigt sich auch bei Anspruch und Wirklichkeit vorhersagender Polizeiarbeit. Bereits die geographische Verknüpfung einfacher Datenbestände erlaubt relevante Aussagen über absehbare Gefährdungslagen und über grundlegende städtebauliche Aspekte. Die herangezogene theoretische Basis beschränkt jedoch die weitere Vertiefung: Wird das Betrachtungsraster immer feiner gewählt, vermindert sich das Potenzial für plausible Schlussfolgerungen tendenziell, während die Reproduktion von Stereotypen wahrscheinlicher wird. Die strikte Anwendung kleinteiliger Muster führt zudem möglicherweise zur Musteränderung auf Verbrechensseite. Findet vorhersagende Polizeiarbeit vor diesem Hintergrund auch noch als Effizienzversprechen und möglicherweise sogar als Legitimation für Mittelkürzungen in die politische Steuerung Eingang, kann die Wirkung des Instrumentariums schnell ad absurdum geführt werden.

Themenkonjunkturen

Suchanfragen Vorhersagende Polizeiarbeit
Wissenschaftliche Publikationen und Patentanmeldungen

Folgenabschätzung

Möglichkeiten

  • Verbesserung der Informationsgrundlage durch strukturierte und standardisierte Datenverarbeitung (siehe Verwaltung x.0)
  • »Frühwarnsystem« für gesellschaftliche Entwicklungen und akute Gefährdungen
  • Effektivitätssteigerung polizeilicher Präventionsmaßnahmen
  • Bedarfsgerechter Mitteleinsatz auf transparenter Datengrundlage
  • Empirisch-kriminologischer Erkenntnisgewinn (siehe Stupsen)
  • Nutzung kleinteiliger Erkenntnisse zur Stadtplanung; Gestaltung der Smart City
  • Übertragung auf weitere Anwendungsfelder, insbesondere in der Prävention von Cybercrime (siehe Darknet)

Wagnisse

  • Übertriebende Effizienzhoffnungen der Politik
  • Datenschutzrechtliche Implikationen
  • Naiver Glaube an Konstanz und Vorhersagbarkeit menschlicher Verhaltensmuster
  • Überstrapazierende Interpretation der Ergebnisse und ihrer theoretischen Grundlagen
  • Anspruchsvolle Fragestellungen für Theoriebildung, Modellierung und Datenauswertung
  • Ausrichtung der Polizeiarbeit auf Symptombekämpfung und räumliche oder zeitliche Verdrängung von Straftaten
  • Verschlechterung des subjektiven Sicherheitsempfindens durch Verlagerung von Polizeipräsenz
  • Vernachlässigung ungewöhnlicher Verbrechen

Handlungsräume

Datenqualität

Bei Zugriff auf und Verknüpfung von Daten müssen datenschutzrechtliche Vorgaben eingehalten werden; fehlerhafte Daten führen zu falschen Ergebnissen. Die Qualitätssicherung des Auswertungsprozesses muss also von Beginn an von polizeilichen Datenexperten gewährleistet werden.

Beherrschen der Methodik

Verwendete Algorithmen müssen transparent oder zumindest nachvollziehbar sein, um die Methodik verstehen und die Ergebnisse einschätzen zu können. Insbesondere für proprietäre Lösungen ist dies herausfordernd.

 

Forschung und Evaluation

Vorhersagende Polizeiarbeit beruht auf klaren, aber nicht besonders weitreichenden wissenschaftlichen Modellen. Sie bedarf daher der weiteren Forschung ebenso wie der permanenten Evaluierung sowohl in derzeitigen Erprobungsphasen, als auch parallel zum Regelbetrieb.