Asset-Herausgeber

Wie können Open-Source-Software und -Systeme barriereärmer werden?

Wie können Open-Source-Software und -Systeme barriereärmer werden?

Gastbeitrag von

Dr. Irmhild Rogalla ist eine der Leiter:innen des Instituts für Digitale Teilhabe der Hochschule Bremen und Leiterin des Instituts für praktische Interdisziplinarität. »Digitalisierung und Arbeit« ist ihr großes Thema, zu dem sie Entwicklungsprojekte durchführt, Gutachten verfasst sowie als Expertin insbesondere für Technikfolgenabschätzung sowie Fragen von Zugänglichkeit, Teilhabe und Partizipation tätig ist.

Aktuell ist sie u.a. Leiterin des Projekts »Digitale Teilhabe im Arbeitsleben durch partizipative Evaluation«, welches das Ziel hat, Open Source Entwickler:innen und Communities dabei unterstützen, möglichst barrierearme Software zu erstellen und dies auch zu prüfen. Prinzipielle Verbesserungen statt individueller Workarounds durch Partizipation und Empowerment von Menschen mit Beeinträchtigungen sowie Beiträge zu »Open Accessibility« werden dies ermöglichen. Das Projekt wird aus Mitteln der Ausgleichsabgabe der Freien und Hansestadt Bremen gefördert durch das Amt für Versorgung und Integration.

Ein Überblick über alle Beiträge dieser Reihe befindet sich hier: Blogreihe Open Source

In der öffentlichen Verwaltung wird zunehmend Freie- und-Open-Source-Software (FOSS) eingesetzt. Dabei lassen sich grob zwei wesentliche Einsatzbereiche unterscheiden: Zum einen spezielle Software, sogenannte »Fachanwendungen«, die besonders auf kommunaler und Länderebene gefragt sind – etwa für Friedhofsverwaltung oder Kommunalabgaben wie die Hundesteuer. Zum anderen generische Software, die für übliche Bürotätigkeiten erforderlich ist, wie beispielsweise das Verfassen von Texten, Organisieren von Projekten oder Kommunizieren per Videokonferenz.

Für beide Bereiche ist FOSS besonders geeignet, wobei hierbei unterschiedliche Aspekte berücksichtigt werden können – von technischen Rahmenbedingungen bis zu Belangen der Nutzenden. Ein wichtiger Aspekt ist dabei auch die Barrierefreiheit. Denn in der öffentlichen Verwaltung arbeiten in allen Bereichen auch Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen, die – genau wie alle anderen – digitale Tools und Software nutzen wollen und müssen. Zudem schreibt die BITV 2.0 als einschlägige Verordnung die barrierefreie Gestaltung »elektronisch unterstützte[r] Verwaltungsabläufe« vor.

Was bedeutet Barrierefreiheit von Software?

Bislang wurden in Deutschland vor allem Erfahrungen mit der barrierearmen Gestaltung von Webseiten und Internetauftritten gesammelt. Die Resultate fallen sehr gemischt aus. Software zugänglich zu gestalten, ist eine größere Herausforderung, lässt aber zugleich mehr Spielraum für alle Anwender:innen. Denn Software wird von unterschiedlichen Nutzer:innen mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Vorlieben für sehr unterschiedliche Zwecke eingesetzt. Zusätzlich gilt gemäß (BGG): Menschen mit Behinderungen haben ein Recht darauf, alle Arten digitaler Systeme ohne fremde Hilfe und ohne besondere Erschwernisse zu nutzen. Bisher ist eine solche Nutzung selten möglich; die Gründe dafür sind vielfältig und umfassen:

  • Unterschiedliche Bedarfe: Eine Screenreader-Nutzerin hat andere Anforderungen als Menschen aus dem autistischen Spektrum oder jemand mit einer chronischen Krankheit. Für alle diese Menschen muss Software nutzbar gestaltet werden, aber die Anforderungen an Nutzbarkeit sind jeweils unterschiedlich, teilweise sogar widersprüchlich. Daher ist Barrierefreiheit nicht nur eine Frage der Oberfläche oder des Mensch-Maschine-Interfaces, sondern der grundlegenden Konzeption bzw. Architektur der Anwendungen.
  • Komplexität von Software und IT-Systemen: Gerade weil Barrierefreiheit nicht nur eine Sache der Oberfläche ist, sondern sehr unterschiedliche technische Abhängigkeiten berücksichtigt werden müssen, ist ihre Realisierung schon für einzelne Anwendungen hochkomplex. Noch mehr gilt dies für das Zusammenwirken mehrerer Anwendungen untereinander, mit dem Betriebssystem des Computers sowie mit per Internet auf anderen Rechnern (»in der Cloud«) realisierten Funktionalitäten. Die Komplexität wächst nochmal im Einsatzkontext: Bei Videokonferenzen beispielsweise muss auch die eingesetzte Audio- und Video-Hardware berücksichtigt werden – und die Konferenz muss organisatorisch wie kommunikativ barrierearm gestaltet werden.
  • Fehlende Standards: Zwar gibt es einige Standards und Normen, die die Barrierefreiheit (auch) von Software regeln. Allerdings sind diese relativ allgemein gehalten, kaum bekannt, nicht konsistent und teilweise veraltet. Viel gravierender noch: Barrierefreiheit zu berücksichtigen, ist bisher nicht allgemein üblich, weshalb es an praktikablen Regeln, einschlägigen Erfahrungen und Gewohnheiten fehlt.

Kurz gesagt: Barrierearm oder barrierefrei können nur Anwendungen und IT-Systeme sein, die gebrauchstauglich und ergonomisch gestaltet sind (eine gute »Usability« aufweisen). Eine solche Gestaltung setzt ein entsprechendes Konzept für das Design und die Systemarchitektur voraus. Die Realisierung ist dann eine Querschnittsaufgabe im gesamten Entwicklungs-, Lebens-, Wartungs- und Nutzungsprozess der Anwendungen und Systeme.

Wo liegen die Besonderheiten von Open-Source-Software, die für ihre barrierearme Gestaltung relevant sind?

Zwei Schlüsselfaktoren sind der öffentlich verfügbare Quellcode sowie die Charakteristika der Freie-Software-Bewegung und Open-Source-Kultur. Der öffentlich verfügbare Quellcode und das jedem zustehende Recht, diesen zu ändern und wieder zu veröffentlichen, fördert nicht nur Transparenz, Vertrauen und Sicherheit. Es ermöglicht Entwickelnden auch, die Software an spezifische Anforderungen anzupassen. Dies gilt natürlich auch für Anforderungen hinsichtlich der Barrierefreiheit.

Die besondere Kultur, aus der heraus sich FOSS entwickelte, hat viele Facetten. Sie wurde im Laufe der Zeit deutlich verändert, aufgefächert und erweitert. Eines ihrer Merkmale sind Gemeinschaften, die Software aus dem Motiv heraus entwickeln, kooperativ etwas Nützliches zu schaffen. Diese Community, oft weltweit verteilt, sind ihrerseits zumeist offen für neue Beitragende. So ergeben sich Möglichkeiten Ideen auszutauschen, voneinander zu lernen und gemeinsam an Projekten zu arbeiten.

Die Breite und Vielfalt der Anforderungen an Barrierefreiheit führen so im besten Falle zu innovativen Ansätzen und Lösungen. Ein Beispiel ist der Screenreader NVDA (»NonVisual Desktop Access«) für Windows. Seine Entwicklung wird von einer weltweiten Community hauptsächlich ehrenamtlicher Beitragender vorangetrieben, von denen viele blind sind und daher Barrieren wie Lösungen für Zugänglichkeit aus eigener Erfahrung kennen und beurteilen können.

Mit welchen Herausforderungen sieht sich die Entwicklung barrierefreie Software konfrontiert?

Viele Schwierigkeiten, die auftreten, wenn Software barriereärmer gestaltet werden soll, betreffen alle Arten von Software und IT-Systemen. Allerdings gibt es auch einige, die für FOSS und ihre Entwicklungsprozesse besonders typisch sind:

  • Stellenwert von Usability: Die gebrauchstaugliche und ergonomische Gestaltung einer Anwendung ist Voraussetzung für gelungene Barrierefreiheit. Viele Open-Source-Anwendungen entstammen einer Zeit, in der Usability in der IT-Entwicklung kaum eine Rolle spielte, und eine nachträgliche Verbesserung der Zugänglichkeit ist aufwendig.
  • Rolle von Barrierefreiheit in den Communitys: So unterschiedlich die FOSS- Communitys sind, so unterschiedlich ist für sie auch der Stellenwert, den sie der Barrierefreiheit beimessen, und dieser reicht von Selbstverständlichkeit bis hin zur Ignoranz. Oftmals der Tradition der Freiwilligkeit geschuldet, suchen sich die Beitragenden ihre Aufgaben selbst aus. Da die Bedarfe der Programmierung recht hoch und Barrierefreiheitsprobleme oft schwierig zu lösen sind, spielen sie häufig eine untergeordnete Rolle. Verschärft wird dieses Phänomen noch dadurch, dass viele Menschen mit Behinderungen wenig über die Spezifika von FOSS und die eigenen Mitgestaltungsmöglichkeiten wissen.
  • FOSS in der öffentlichen Verwaltung: Dieses Verhältnis ist sicherlich kompliziert. Aktuelles Beispiel sind die Entwicklungen rund um den »Souveränen Arbeitsplatz« des BMI, das Projekt »dPhoenix« von dataport und nunmehr »openDesk« von ZenDiS. Einerseits sorgen diese Vorhaben - durch in der Regel bezahlte Beiträge - für eine Weiterentwicklung der jeweiligen (Open-Source-) Software, insbesondere auch für die Barrierefreiheit. Andererseits sind die dafür errichteten Strukturen oftmals schwer zu durchschauen und kulturelle Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Institutionen erschweren die Zusammenarbeit.

Welche Möglichkeiten und Potentiale ergeben sich?

Nichtsdestotrotz überwiegen die positiven Möglichkeiten, die FOSS für die Barrierefreiheit bereithält: Der erste große Vorteil von FOSS ist die Anpassbarkeit. Anders als bei kommerzieller Software, bei der ausschließlich der Hersteller über Anpassungen bestimmt, können die Anforderungen – hinsichtlich der Zugänglichkeit – von allen Nutzenden eingebracht und vorgenommen werden. Dank der vielen verschiedenen Nutzungskontexte, die so Beachtung finden, entstehen generelle Lösungen für die Allgemeinheit statt individueller Workarounds. Und das lohnt sich, auch wenn Barrierefreiheit und Ergonomie einen gewissen Mehraufwand bedeuten.

Einen zweiten großen Vorteil stellen die unterschiedlichen Communitys dar. Denn Verschiedenartigkeit und Offenheit befördern generell innovative Lösungen zur Zugänglichkeit. Verschiedene Möglichkeiten der Beteiligung an den Communitys und damit an den von ihnen getragenen Entwicklungs- und Wartungsprozessen der jeweiligen Software, stehen Menschen mit Behinderungen genauso offen wie allen anderen. Diese reichen von Fehlermeldungen bis hin zur gemeinsamen Entwicklung, wie das Beispiel NVDA zeigt. FOSS-Projekte und -Communitys können daher auch über Barrierefreiheit hinaus empowernd wirken.

Die Communitys sind es auch, die für den dritten großen Vorteil von FOSS sorgen. Diese sind oftmals weltweit vernetzt und wirken deshalb oft über die konkrete Software und einen bestimmten Ort hinaus. Denn Entwicklungsarbeiten und Entwicklungsprozesse von FOSS stellen nicht selten übertragbare Lösungen dar, die sich als Standards etablieren. FOSS übernimmt so eine Vorbildfunktion und trägt über digitale Barrierefreiheit hinaus zu sozialer Nachhaltigkeit bei.

Weiterführendes von ÖFIT:

Für mehr Barrierefreiheit in der digitalen Verwaltung - Organisationale Hürden und mögliche Maßnahmen

Die Kurzstudie trägt aus Literatur und Expert:inneninterviews organisationale Hürden und mögliche Maßnahmen für die Barrierefreiheit digitaler Verwaltungsangebote zusammen. Denn auch nach zwanzig Jahren gesetzlicher Vorschriften zur Barrierefreiheit in der Informationstechnik ist die Umsetzung trotz großer Fortschritte weiterhin lückenhaft. Hürden sind fehlendes Wissen zur Umsetzung, niedrige Priorisierung im Verwaltungsalltag sowie unklare und kaum konsequent durchgesetzte Regeln. Zur besseren Umsetzung sollten Kompetenzen aufgebaut, Bewusstsein geschaffen, Regeln durchgesetzt und Ressourcen bereitgestellt werden.

Open Data - zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Open Data soll die Zusammenarbeit zwischen Behörden verbessern, die Transparenz von Politik erhöhen und neue Geschäftsmodelle ermöglichen. Die Ansprüche an die Verwaltung sind hoch, doch bei der Umsetzung zeigen sich Hürden. Kritiker führen an, dass offene Daten nur selten genutzt werden. Grund genug, eine Zwischenbilanz zu ziehen. Anhand von vier europäischen Metropolen arbeiten wir in dieser Studie nicht nur Unterschiede in der Umsetzung von Open Data heraus, sondern gehen auch auf die jeweilige Nutzung ein. Was passiert, wenn politische Versprechen auf Verwaltungswirklichkeit treffen? Wir laden Sie zur Beantwortung dieser Frage auf eine Reise nach London, Hamburg, Berlin und Wien ein. Unterwegs erfahren Sie, wie Open-Data-Ökosysteme entstehen und was für eine erfolgreiche Umsetzung von Open Data ausschlaggebend ist.

Indoor-Navigation

Navigationshilfen haben längst den Alltag vieler Menschen erobert. Außerhalb von Gebäuden kommt dabei die Satellitennavigation zum Einsatz. Innerhalb von Gebäuden und in dicht bebauten Gebieten stößt diese jedoch an technische Grenzen, weil Decken und Wände die Satellitensignale verfälschen. Eine Vielzahl von Unternehmen entwickelt deshalb Lösungen, um den Wachstumsmarkt der Positionsbestimmung in Innenräumen und damit verbunden der Indoor-Navigation zu erobern. Während sich vielfältige Anwendungsmöglichkeiten abzeichnen, gibt es dabei auch datenschutzrechtliche Bedenken: Wie werden Anbieter mit den kleinräumigen Daten zum Nutzerverhalten umgehen?


Veröffentlicht: 06.12.2023